Lama Ole – Tod und Wiedergeburt
Lama Ole
Von Tod und Wiedergeburt
Leseprobe: Kapitel 1
Ohne Anfang und Ende
Über die Welt, das Leben, den Tod und das Danach machen sich die Menschen seit Jahrtausenden Gedanken, und es wurden unzählige Annahmen und Ansichten dazu entwickelt. Die Vorstellung, dass es einen Anfang und ein Ende der Welt gäbe, ist dabei weit verbreitet. Sie findet sich bei Wikingern ebenso wie im griechischen Denken oder in den drei großen Glaubensreligionen des Mittleren Ostens, in denen Gottesvölker mit oft schwierigen Göttern sie auf dem Weg zu einem gelobten Land erfahren. Während in Glaubensreligionen ein persönlicher Gott der Verursacher und Endzweck ihrer Welt ist, gehen der Buddhismus und andere Erfahrungsreligionen wie Hinduismus und Taoismus von einem beständigen Kreislauf des Werdens und Vergehens (Kreislauf des Lebens) aus.
Die Welt ist nicht die Schöpfung einer höheren Macht oder etwas objektives Äußeres, sondern wird durch Wahrnehmung und Handlungen laufend geschaffen, weswegen man sich durch die Entwicklung einer überpersönlichen Einsicht befreien kann. Statt nach einem Sündenfall oder einem Schuldigen für die Widerwärtigkeiten des Lebens zu suchen und auf etwas Jenseitiges zu hoffen, schaut man auf die gegebenen Umstände und Wirkungen und zielt auf die Entwicklung von dem, was ist, sowohl im Leben als auch darüber hinaus. Dementsprechend findet man handfesten Rat zum Meistern des Lebens und des Sterbens und zu einer glücklichen Wiedergeburt im Allgemeinen in den Erfahrungsreligionen und hier im Besonderen im tibetischen Buddhismus.
Um das Verständnis für die verschiedenen Zuständen und Verhaltensweisen des Geistes zu erleichtern, unterteilen die buddhistischen Belehrungen den Kreislauf des Lebens. Er besteht zwar aus einer beständigen Kette von aneinanderhängenden Augenblicken, lässt sich aber in Zwischenzustände gliedern. Solche Zwischenzustände von einem bestimmten Anfangspunkt bis zu einem bestimmten Endpunkt werden mit dem Begriff »Bardo« bezeichnet.
Wörtlich übersetzt bedeutet er »Lücke« oder »zwischen«. Es gibt unendlich viele solcher Bardos, denn alles verändert sich ständig. So gesehen, befindet man sich – bis zur Erleuchtung – stets im Übergang von einem Zustand zum anderen. Allgemein verstanden bezeichnet Bardo den Zwischenzustand zwischen dem jetzigen Leben und der Wiedergeburt in das darauf folgende Leben. Nur der Zustand, in dem der Wissende seine eigene Zeitlosigkeit erkennt – Befreiung oder Erleuchtung –, ist kein Bardo.
Im Tibetischen Totenbuch spricht man an manchen Stellen von nur zwei Bardos: dem des Lebens und dem des Todes; an anderen Stellen aber auch von vier: dem des Lebens, des Sterbens, der Soheit und des Werdens. Bei noch genaueren Erklärungen werden im Zwischenzustand des Lebens noch zwei weitere unterschieden, sodass man insgesamt von sechs Bardos spricht: dem Bardo des Wachzustands, des Traumes, der Meditation, des Sterbens, der letztendlichen Natur und des Werdens.
Die sechs Bardos entsprechen drei immer wiederkehrenden Bewusstseinszuständen von der Geburt bis zu dem Zeitpunkt, in dem der Sterbeprozess unwiderruflich eingesetzt hat, und drei aufeinanderfolgenden Zwischenzuständen, die sich zwischen dem Sterben und dem nächsten Leben abspielen.
Bardo des Lebens (sanskr.: jatyantarabhava, tib.: rangzin bardo):
Im Wachzustand arbeitet jeder mit der gemeinsam erfahrenen Sinneswelt durch Körper, Rede und Geist. Man ist bewusst, kann denken und überlegt handeln. Die Welt wird als fest und logisch erlebt. Während des Tages wird eine gemeinsame, wenn auch von der eigenen Einstellung gefärbte Welt erfahren.
Das Geteilte ist, was die Reichweite unserer Sinne und die Offenheit der jeweiligen Kultur an Erfahrungen zulassen, und das Eigene ist der »Dreh«, den man ihr durch eigene Wünsche und Erwartungen gibt. In dieser Zeit kann man bewusst sein Leben verändern, steuern und mit seinem Geist arbeiten (vgl. die Kapitel »Die Wege zum Glück« und »Die Wiedergeburt«). Mithilfe buddhistischer Mittel kann man sich hier am besten für die Zukunft und somit auf alle anderen Zwischenzustände vorbereiten.
Bardo des Traumes (sanskr.: svapanantarabhava, tib.: milam bardo):
Die Traumphasen während des Schlafes werden als zweites Bardo innerhalb des Bardos des Lebens bezeichnet. Dazu gehören auch Rauschzustände durch nicht psychedelische Drogen oder Alkohol. Im Traum werden während drei nächtlicher Abschnitte drei Arten von Erfahrungen gemacht: Zuerst werden die Eindrücke des Tages verarbeitet, danach können körperliche Erfahrungen während des Tiefschlafes aufkommen, und kurz vor dem Aufwachen ist der Geist mitunter offen für in Kürze erscheinende Geschehnisse, während beim ungestörten Durchschlafen Vorausschauungen auf die in der Ferne liegende Zukunft möglich sind.
Er wird als genauso wirklich erlebt wie die Tageswelt, obwohl Dinge völlig frei und unabhängig von Zeit, Ort und Körper geschehen, nicht mit anderen geteilt werden, nur den Geist betreffen und auch nicht in Zeitfolge ablaufen. Im Tiefschlaf, in dem das Bewusstsein in der Körpermitte verweilt und nur von Verwirklichern mit bestimmten Meditationsübungen erfahren wird, herrscht völlige Unwissenheit.
Bardo der Meditation (sanskr.: samadhyantarabhava, tib.: samtan bardo):
Ein fortgeschrittener Buddhist meditiert regelmäßig mit der Absicht, seinen Geist zu erkennen. So hält er während der Geschäftigkeit des Alltags eine möglichst reine Sichtweise und überlagert damit den täglichen, meist gewohnheitsmäßigen Erlebnisfl uss. Man lernt auf diese Weise, immer weniger auf störende Gefühle einzugehen, verweilt bewusster im Augenblick und kann allmählich die zeitlosen Eigenschaften des Geistes erfahren. Nach Beendigung der sitzenden Vertiefung wird, wenn sich die Aufgaben des Lebens wieder melden, diese Ebene bestmöglich festgehalten.
So lernt man mit jeder Meditation nicht nur den Geist besser kennen, sondern das weite Sowohl-als-auch-Gewahrsein lässt einen das Erlebte auch besser überschauen. Man verwendet den Begriff Bardo der Meditation nur dann, wenn ein direktes Erleben der Natur des Geistes tatsächlich stattgefunden hat. Erst dann ist man in der Lage, zwischen Meditation und Nachmeditation zu unterscheiden.
So, wie einem der Wechsel von einem Erfahrungsbereich in den nächsten (Schlaf/Meditation) über die Jahre immer vertrauter wird, kann man auch den Sterbeverlauf später, falls es körperlich möglich sein sollte, bewusst durchlaufen und je nach Fähigkeit für die Zukunft bestens nutzen (vgl. die Kapitel »Die Wege zum Glück« und »Das Bewusste Sterben«). Die täglichen Erfahrungen sind aber nicht die einzigen Zwischenzustände, die durchlebt werden. Fallen die Bedingungen für ein Leben weg, kann der Körper den Geist nicht mehr halten. Seine Energiebewusstheit verlässt ihn dann, und drei weitere Bardos erscheinen mit Kraft.
Bardo des Sterbens (sanskr.: mumursantarabhava, tib.: chikai bardo):
Der erste dieser Zwischenzustände, der Bardo des Sterbens, ist der Sterbevorgang selbst, das heißt die Zeit kurz vor, während und kurz nach dem klinischen Tod, den alle seit anfangsloser Zeit immer wieder erlebt haben und bis zur Erleuchtung immer wieder erfahren werden.
Bardo der Soheit (sanskr.: dharmatantarabhava, tib.: chönyi bardo):
Während des zweiten Zustands, dem Bardo der Soheit, besteht die Möglichkeit, mit dem Klaren Licht des Geistes zu verschmelzen. Auf diese Weise erkennt man das Wesen des Geistes und wird erleuchtet. Bleibt dieser Augenblick ungenutzt, folgen für gut ausgebildete Menschen etwa 68 Stunden der Unbewusstheit.
Sobald man daraus erwacht, können Buddhisten in den nächsten sieben Tagen ihren Lehrern und den Buddhaformen begegnen, zu denen sie durch Einweihung oder geleitete Meditationen eine Verbindung aufgebaut haben, und in ihre Kraftfelder höchster Freude eintreten (vgl. Kapitel »Der entscheidende Augenblick«). Bardo des Werdens (sanskr.: bhavantarabhava, tib.: ripa bardo): Hat man die Möglichkeit, einen überpersönlichen Zustand zu erreichen, im vorherigen Bardo nicht nutzen können, gelangt man ab dem zehnten Tag in den nächsten Zwischenzustand, den Bardo des Werdens. Die Eindrücke des Speicherbewusstseins, bestehend aus Neigungen und Karma, bilden hier ein immer festeres Muster, das einen innerhalb der folgenden 39 Tage an ein neues Leben in der bedingten Welt bindet.
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